Newsletter 01.2024

Liebe ehrenamtliche Betreuerinnen und Betreuer,

wie wichtig die Teilhabe von Menschen mit Behinderung für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft ist, scheint sich langsam in den Köpfen der Menschen zu verankern. Mut macht vor allem der Fall, der vor dem Landgericht München I verhandelt wurde. Bewusst löste sich das Landgericht hierbei von höherrangiger Rechtsprechung. Besonders bemerkenswert ist, dass das Gericht ausdrücklich erwähnte, dass Mandantinnen und Mandanten nicht automatisch einen sehenden Rechtsbeistand haben müssen. Da scheint viel in Bewegung zu sein, was Hoffnung macht. Lesen Sie mehr über die Entscheidung in der Rubrik „Rechtsprechung“.

Genießen Sie die anstehenden Osterfeiertage und verbringen Sie die freie Zeit so angenehm wie möglich.

Herzliche Grüße

Ihr Christoph Überschär

Aktuelle Rechtsprechung

Sehbehinderte haben vor Gericht einen Anspruch auf Audiodateien

Sehbehinderte Menschen haben das Recht, dass ihnen in einem Zivilverfahren die Prozessunterlagen und auch die Klageschrift per Audiodatei zugänglich gemacht werden. Das entschied das Landgericht München I entgegen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs.

Landgericht München I, Beschluss vom 12.09.2023, Az. 14 T 9699/23

Das ist passiert

Eine Mieterin wurde von ihrer Vermieterin verklagt. Die Vermieterin machte ein Recht auf Räumung der vermieteten Wohnung sowohl aufgrund von Eigenbedarf als auch wegen einer Kündigung aufgrund von Zahlungsverzug gerichtlich geltend.

Die Mieterin behauptete hingegen, sich in einem „mit Blindheit vergleichbaren Zustand“ zu befinden. Das bestritt die Vermieterin, sodass die Mieterin ein ärztliches Attest von Dr. med. H. vorlegte. Dieser sprach von einer „dramatische[n] Gesamtsituation“, die Mieterin sei „funktionell erblindet“ und daher in allen Bereichen des Alltags schwer in ihrer Selbstständigkeit eingeschränkt. Dieser Zustand erfordere, dass „die Augen die meiste Zeit des Tages sowie in der Nacht mit Uhrglasverband abgeklebt werden“. Die Mieterin leide unter „ständigen, nicht behebbaren chronischen Schmerzen der Augenoberfläche […]“. Zudem leide die Dame unter einer extrem trockenen Bindehaut.

Die Mieterin konnte Blindenschrift nicht lesen und beantragte deshalb mehrfach, ihr die Schriftsätze des gerichtlichen Verfahrens barrierefrei in Form einer Audiodatei zur Verfügung zu stellen. Das Amtsgericht wies die entsprechenden Anträge zurück. Es vertrat die Ansicht, dass der Rechtsanwalt der Mieterin ihr die Schriftsätze vorlesen könne. Gegen diese Entscheidung legte die Mieterin sofortige Beschwerde ein.

Darum geht es

Die Mieterin wollte vor dem Landgericht München I erreichen, dass ihr sämtliche Prozessunterlagen als Audiodatei zur Verfügung gestellt werden.

Die Entscheidung

Das Landgericht München I hielt die zulässige Beschwerde gegen die amtsgerichtliche Entscheidung für begründet.

Die sehbehinderte Frau konnte – trotz anwaltlicher Vertretung – die barrierefreie Übermittlung der verfahrensgegenständlichen Schriftsätze in Form von Audiodateien nach § 191a Abs. 1 Satz 2 Abs. 2 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) i. V. m. § 4 Zugänglichmachungsverordnung (ZMV) einfordern. Nach § 191a Abs. 2 GVG kann eine blinde oder sehbehinderte Person verlangen, dass ihr nach Maßgabe der Rechtsverordnung Schriftsätze und andere Dokumente eines gerichtlichen Verfahrens barrierefrei zugänglich gemacht werden.

Das Landgericht trat der Argumentation des Amtsgerichts entgegen. Das Amtsgericht berief sich darauf, dass es zumutbar sei, dass der jeweilige Rechtsbeistand die Prozessunterlagen vorliest, weil sehbehinderte Menschen dann bei unkomplizierten Sachverhalten in der Lage sind, Kenntnis zu nehmen. Auf diese Ansicht beziehen sich auch die Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (10.01.2013, Az. I ZB 70/12) und des Bundesverfassungsgerichts (10.10.2014, Az. 1 BvR 856/13), die eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes aus Art. 3 Grundgesetz ebenfalls als nicht gegeben ansehen.

Die Mieterin kann jedoch nicht darauf verwiesen werden, einen sehfähigen Rechtsanwalt an ihrer Seite zu haben. So kann weder dem Rechtsanwalt zugemutet werden, seiner Mandantin die Schriftsätze vorzulesen, noch kann es der Mandantin zugemutet werden, entsprechend den zeitlichen Vorgaben ihres Rechtsanwalts zuzuhören. Die Mieterin ist auf Reproduktion der Schriftsätze angewiesen, damit sie sich einzelne Passagen auch mehrmals anhören und das Wesentliche für sich filtern könne, ohne dass sie durch ihren Rechtsanwalt „bevormundet“ werde. Die „hilflose Lage“ der Beklagten gebietet dringend, ihr den Streitstoff in Audiodateien zur Verfügung zu stellen. Den Streitstoff erachtete das Landgericht nicht als unkompliziert.

Das Landgericht bezog sich auf den Wortlaut des § 191a GVG. § 191a Abs. 1 GVG stelle eine wichtige Ergänzung zum Behindertengleichstellungsgesetz (BBG) dar, das darauf abziele, dass Menschen mit Behinderung eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ermöglicht wird.

Das bedeutet die Entscheidung für die Praxis

Das Landgericht ist mutig von der bisherigen Rechtsprechung abgewichen und hat die Rechtsbeschwerde zugelassen. Mut gemacht hat dem Landgericht sicherlich auch die Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts, die seit 2023 in Kraft ist. Mit dieser Reform sollen die Rechte und die Eigenverantwortlichkeit von Menschen mit Behinderung gestärkt werden. Es bleibt abzuwarten, wie in diesem Fall weiter entschieden wird, wenn Rechtsbeschwerde erhoben wird.

Dennoch ist das eine wegweisende Entscheidung, die die Teilhabe von Menschen mit Behinderung voranbringt.

Quelle: Landgericht München I, Beschluss vom 12.09.2023, Az. 14 T 9699/23

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Veranstaltungen

Vortrag: „Sicher leben“ – Betrugsmaschen am Telefon und im Internet

Referent:         Ralph Schoppet, Zentrum polizeiliche Prävention des Polizeipräsidiums Trier
Termin:            Mittwoch, 24.04.2024, 18:00–20:00 Uhr
Ort:                       Sitzungssaal der Kreisverwaltung Birkenfeld, Schneewiesenstraße 25,
                               55765 Birkenfeld

Bitte melden Sie sich zu der Veranstaltung per Telefon unter 06781 667421 oder per E-Mail unter betreuungsverein@awo-birkenfeld.de an.

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Grundkurs: Rechtliche Betreuung

Wenn Sie eine rechtliche Betreuung übernehmen oder schon etwas länger dabei sind, haben Sie vermutlich viele Fragen. In unserem Grundkurs werden diese beantwortet, und Sie übernehmen Ihr Ehrenamt bestens vorbereitet.

Der Grundkurs umfasst fünf Module. Bei Teilnahme an mindestens vier Modulen erhalten Sie eine Teilnahmeurkunde. Sämtliche Termine finden im Sitzungssaal der Kreisverwaltung Birkenfeld, Schneewiesenstraße 25, 55765 Birkenfeld, statt.

Modul 1: Einführung in die rechtliche Betreuung

Grundbegriffe des Betreuungsrechts, Betreuungsbehörde und deren Aufgaben, Vorsorgeverfügungen

Referentinnen: Nicole Janßen-Knöß, Simone Zimmer, Betreuungsbehörde Kreisverwaltung Birkenfeld
Termin:               Mittwoch, 12.06.2024, 18:00–20:00 Uhr

Modul 2: Aufgabenkreise einer rechtlichen Betreuerin oder eines Betreuers

Aufgabenbereiche allgemein, Vermögenssorge

Referent:            Christoph Überschär, AWO Betreuungsverein für den Kreis Birkenfeld e. V.
Termin:               Mittwoch, 19.06.2024, 18:00–20:00 Uhr

Modul 3: Aufgabenbereich Gesundheitssorge

Gesundheitssorge und Unterbringung

Referentin:        Ute Gutendorf, Betreuungsverein Caritasverband Rhein-Hunsrück-Nahe e. V.
Termin:               Mittwoch, 26.06.2024, 18:00–20:00 Uhr

Modul 4: Krankheitsbilder und Behinderungen

Geistige und körperliche Behinderungen, psychische Erkrankungen

Referent:            Dr. med. Martin Michael, Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie und öffentliches
                               Gesundheitswesen
Termin:               Mittwoch, 03.07.2024, 18:00–20:00 Uhr

Modul 5: Rechtliche Pflichten von Betreuerinnen und Betreuern

Anfangsbericht, die Rolle von Betreuerinnen und Betreuern, Aufwandspauschale, Versicherung

Referenten:      Simon Wölbitsch, Betreuungsverein Perspektive plus e. V,
Christoph Überschär, AWO Betreuungsverein für den Kreis Birkenfeld e. V.

Termin:               Mittwoch, 10.07.2024, 18:00–20:00 Uhr

Bitte melden Sie sich zu der Veranstaltung per Telefon unter 06781 667421 oder per E-Mail unter betreuungsverein@awo-birkenfeld.de an.

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News

Das sollten Sie über die elektronische Patientenakte wissen

Schon im Dezember vergangenen Jahres hat der Bundestag verschiedene Neuerungen im Hinblick auf die elektronische Patientenakte (ePA) beschlossen. Fakt ist, dass die ePA ab Anfang des Jahres 2025 für alle Versicherten automatisch eingerichtet wird. Worauf sollten Sie sich einstellen?

Sie können der Einrichtung einer ePA zwar widersprechen, aber überlegen Sie, ob das wirklich sinnvoll ist. Letzten Endes ist die ePA ein Ort, an dem alle Krankendaten über Sie gespeichert sind. In einem Notfall kann es über Ihr Leben entscheiden, dass die behandelnde Ärzteschaft sofortigen Zugriff auf Ihre Krankendaten hat und etwa genau darüber Bescheid weiß, welche Medikamente Sie einnehmen.

So ist das Verfahren

Die Krankenkassen stellen eine App-Anwendung für die Nutzung der ePA bereit. Sie werden ihre Versicherten über die ePA informieren und auch über die Möglichkeit des Widerspruchs. Als Versicherter haben Sie genügend Zeit, der Anlage einer ePA zu widersprechen.

Ist es möglich, die ePA ohne App-Anwendung zu nutzen?

Grundsätzlich ist das möglich, aber Sie haben dann keine Möglichkeit, Einsicht in Ihre in der ePA gespeicherten Daten zu nehmen. Ebenso können Sie nicht die erteilten Berechtigungen und die Zugriffsprotokolle prüfen.

Außerdem ist es Ihnen dann nicht möglich, Daten selbstständig in Ihrer ePA zu speichern. Dokumente können ausschließlich durch die von Ihnen berechtigten Leistungserbringereinrichtungen in die ePA eingestellt werden.

Die Berechtigung für Leistungserbringereinrichtungen erteilen Sie ohne ePA-Anwendung ausschließlich direkt beim Leistungserbringer mithilfe Ihrer elektronischen Gesundheitskarte (eGK) und Ihrer PIN im Austausch mit dem Praxispersonal.

Wer hat Zugriff auf Ihre Daten?

Der Zugriff ist auf sogenannte Berufsgeheimnisträgerinnen und -träger, wie beispielsweise Ärztinnen und Ärzte, begrenzt. Diese Personen bekommen dann einen Zugriff auf die „ePA für alle“, wenn sie eine Patientin oder einen Patienten medizinisch behandeln oder versorgen. Versicherte können über die ePA-App detailliert entscheiden, welche Daten, etwa Befundberichte oder Arztbriefe, eingesehen und genutzt werden dürfen. Sie können auch den Zugriffen durch einzelne Zugriffsberechtigte widersprechen. Versicherte, die die App nicht selbst bedienen, dürfen eine Vertretungsperson einsetzen, zum Beispiel eine Angehörige oder einen Angehörigen. Auch ohne die App ist es möglich, den Zugriff auf die ePA zu verweigern. Versicherte können sich bei Streitigkeiten künftig an die Ombudsstellen der Krankenkassen wenden.

Sind Ihre Daten sicher?

„Ja“, sagt das Bundesministerium für Gesundheit. Die Daten werden auf sicheren Servern und in der ePA verschlüsselt abgelegt. Die Inhalte können nur die Versicherten oder deren Vertreterin beziehungsweise Vertreter sowie die per Gesetz definierten Zugriffsberechtigten lesen. Gesetzlichen Betreuern und Betreuerinnen kann der Zugriff von den Betroffenen eingeräumt werden.

Quelle: www.bundesgesundheitsministerium.de

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Veranstaltungen

Stammtisch für Betreuerinnen und Betreuer

Treffen Sie sich mit anderen Betreuungspersonen und Bevollmächtigten sowie den Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartnern der Betreuungsvereine, tauschen Sie sich in ungezwungener Atmosphäre aus und profitieren Sie von den Erfahrungen anderer für Ihre Arbeit.

Von anderen hören und lernen, Erlebtes teilen und eine gute Zeit gemeinsam verbringen – unser Stammtisch findet in der Regel an jedem ersten Donnerstag im Monat statt.

Termin:               Donnerstag, 04.04., 02.05., 13.06.2024, 18:00–20:00 Uhr
Ort:                       Achathotel Zum Schwan, Hauptstraße 25, 55743 Idar-Oberstein

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Hätten Sie es gewusst?

Dürfen berufliche Betreuerinnen oder Betreuer von ihren Betreuten erben?

Jein, lautet die richtige Antwort. Nach § 30 Betreuungsorganisationsgesetz (BtOG) ist es beruflichen Betreuerinnen und Betreuern untersagt, von der oder dem von ihnen Betreuten Geld oder geldwerte Leistungen anzunehmen. Dies gilt auch für Zuwendungen im Rahmen einer Verfügung von Todes wegen.

Allerdings wird schon im dritten Absatz des Paragrafen darauf hingewiesen, dass das Betreuungsgericht auf Antrag des Betreuers oder der Betreuerin im Einzelfall Ausnahmen von dem Verbot des Abs. 1 Satz 1 und 2 zulassen kann. Dies gilt, soweit der Schutz der oder des Betreuten dem nicht entgegensteht. Dieser Fall wird in der Praxis wohl jedoch nicht häufig vorkommen. An § 30 Abs. 3 BtOG ist jedoch zu erkennen, dass die Testierfreiheit ein hohes Gut ist.

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Über Lob freuen wir uns, Kritik nehmen wir ernst!

AWO-Betreuungsverein für den Kreis Birkenfeld e.V.

Hauptstraße 531–533

55743 Idar-Oberstein
betreuungsverein@awo-birkenfeld.de

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