Newsletter 12/2021

Liebe ehrenamtliche Betreuerinnen und Betreuer,

„Wellenbrecher“ ist das Wort des Jahres 2021. Welch eine passende Wahl hat die Gesellschaft für Deutsche Sprache getroffen! Das Wort klingt trotz allem Unbill positiv und tatkräftig. Denn wir müssen tatsächlich zurzeit eine Welle brechen: Die vierte Corona-Welle rollt gerade über uns hinweg.

Eine der wirkungsvollsten Maßnahmen ist die Impfung gegen Covid-19. Wenn wir im Bild bleiben, ist die Impfung bzw. die Impfpflicht zwar ein Wellenbrecher auf der einen Seite, aber nicht gerade ein Wogenglätter. Das ist vermutlich ein Widerspruch in sich. Mit dem Thema Impfung musste sich auch das Landgericht Stuttgart befassen. Die Entscheidung ist eher ebenfalls ein Wellenbrecher. Lesen Sie mehr in der Rubrik „Aktuelle Rechtsprechung“.

Ich wünsche Ihnen ein fröhliches Weihnachtsfest und ein gutes, neues Jahr 2022. Mögen sich dann alle Wogen geglättet haben und sämtliche Wellen gebrochen sein.

Herzliche Grüße

Ihr Christoph Überschär

Aktuelle Rechtsprechung

Sind Corona-Schutzimpfungen genehmigungspflichtig?

Ein gesetzlicher Betreuer wollte offenbar seine Sache besonders gut machen und bat das Betreuungsgericht um Genehmigung einer Corona-Schutzimpfung für seine Betreute. Das Amtsgericht verweigerte die Genehmigung – und letzten Endes musste das Landgericht Stuttgart entscheiden. Mit welchen Argumenten das Landgericht die Beschwerde abgewiesen hat, lesen Sie in dieser Besprechung.

Landgericht Stuttgart, Beschluss vom 30.8.2021, Az. 10 T 173/21

Das ist passiert:

Im Dezember 2020 beantragte ein gesetzlicher Betreuer beim Betreuungsgericht, die Genehmigung der Einwilligung in eine Corona-Schutzimpfung der Betroffenen zu erteilen. Dabei berief er sich auf § 1904 Abs. 1 BGB. Danach bedarf die Einwilligung des Betreuers in eine Untersuchung des Gesundheitszustands, in eine Heilbehandlung oder in einen ärztlichen Eingriff der Genehmigung des Betreuungsgerichts, wenn die begründete Gefahr besteht, dass der Betreute auf Grund der Maßnahme stirbt oder einen schweren und länger dauernden gesundheitlichen Schaden erleidet. Ohne die Genehmigung darf die Maßnahme nur durchgeführt werden, wenn mit dem Aufschub Gefahr verbunden ist.

Nach Einholung eines psychiatrischen Gutachtens vom 1.3.2021 und Einholung eines Gutachtens eines  Sachverständigen vom 15.2.2021 hat das Amtsgericht den Antrag des Betreuers zurückgewiesen. Zur Begründung führt es im Wesentlichen aus, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Genehmigungspflicht nach § 1904 Abs. 1 BGB nicht vorliegen, da keine begründete Gefahr des Todes oder einer schweren und länger andauernden gesundheitlichen Schädigung der Betroffenen bei Durchführung einer Corona-Schutzimpfung bestehen würden.

Gegen diesen Beschluss legte der Betreuer Beschwerde ein.

Darum geht es:

Es geht darum, ob die Corona-Schutzimpfung ohne eine gerichtliche Genehmigung bei gesetzlich betreuten Menschen vorgenommen werden darf.

Die Entscheidung:

Der Betreuer hatte mit seiner Beschwerde vor dem Landgericht Stuttgart keinen Erfolg.

Das Landgericht argumentierte, dass keine begründete Gefahr gegeben sei. Diese von § 1904 Abs. 1 Satz 1 BGB geforderte begründete Gefahr liegt nur dann vor, wenn ein Schadenseintritt bei der betreuten Person konkret und naheliegend möglich ist. Nicht ausschließbare Risiken führen nicht zu einer Genehmigungspflicht.

Bei der beabsichtigten Impfung handelt es sich um eine behördlich empfohlene Impfung mit zugelassenen Impfstoffen. Dass es im Zusammenhang mit Corona-Schutzimpfungen – wie etwa aus dem Sicherheitsbericht des Paul-Ehrlich-Instituts vom 15.7.2021, auf welchen der Verfahrenspfleger hingewiesen hat, hervorgeht – in Einzelfällen zu Nebenwirkungen und Komplikationen kommt, stellt das mit der Impfung allgemein verbundene Risiko dar. Anhaltspunkte dafür, dass neben diesem nicht ausschließbaren allgemeinen Risiko die konkrete und naheliegende Gefahr eines schweren und länger dauernden gesundheitlichen Schadens oder gar des Todes der Betroffenen besteht, liegen nicht vor und werden auch vom Betreuer nicht vorgetragen. Er beschränkt sich vielmehr darauf, allgemeine Risiken aufzuzeigen.

Aus dem Sachverständigengutachten vom 15.2.2021 geht hervor, dass kein erhöhtes Risiko für Todesfälle und schwere Nebenwirkungen bei älteren Personen bei Impfungen mit den zugelassenen mRNA-Impfstoffen besteht. Aus dem bereits erwähnten Sicherheitsbericht des Paul-Ehrlich-Instituts ergibt sich kein Hinweis darauf, dass die Corona-Schutzimpfung bei älteren Menschen grundsätzlich mit der konkreten und naheliegenden Gefahr eines schweren und länger dauernden gesundheitlichen Schadens oder gar des Versterbens verbunden ist.

Die Einwilligung von gesetzlichen Betreuer:innen in die Corona-Schutzimpfung ist also nicht genehmigungspflichtig.

Das bedeutet die Entscheidung für die Praxis:

Gerichtsentscheidungen sind meist ein Spiegel der gesellschaftlichen Realität. Diese Entscheidung ist ein schönes Beispiel dafür. Der eine sehnt die Impfung herbei, der andere begegnet ihr mit Skepsis.

Nichtsdestotrotz hat das Landgericht Stuttgart Ihre Aufgaben als gesetzliche:r Betreuer:in erleichtert. Sie brauchen keine Genehmigung, um die von Ihnen betreuten Menschen impfen zu lassen, sofern im konkreten Fall keine weiteren gesundheitlichen Umstände dagegen sprechen.

Quelle: Landgericht Stuttgart, Beschluss vom 30.8.2021, Az. 10 T 173/21

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News

Barrierefreier Notruf durch neue bundeseinheitliche Notruf-App nora

Die herkömmlichen Notrufnummern werden durch die neue bundesweit einheitliche Notruf-App (nora-Notruf-App) ergänzt. Die App vereinfacht nicht nur das Absetzen eines Notrufs, sondern schafft vor allem eine barrierefreie Alternative. Die Notruf-App ist in den jeweiligen App Stores kostenlos auf Deutsch und Englisch verfügbar.

Insbesondere hör- und sprachbehinderte Menschen, die den Sprachnotruf über die 110 und 112 nicht nutzen können, sind im Notfall auf Alternativlösungen angewiesen. Ihnen stehen bisher ein Notruf-Fax und ein Gebärden-Dolmetscherdienst (TESS-Relay) zur Verfügung.

Der technologische Fortschritt im Bereich der Smartphones macht es möglich, dass an nahezu jedem Ort über das mobile Datennetz kommuniziert werden kann. Diese Möglichkeit lässt sich jetzt auch für Notrufe nutzen, ohne dabei sprechen zu müssen.

Mit der App erreichen Sie Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienste überall in Deutschland im Notfall schnell und einfach. Die Notruf-App kann von jedem genutzt werden, der sich in Deutschland aufhält und in einer Notsituation schnell Hilfe braucht. Sie brauchen dafür nur ein Smartphone mit einem Mobilfunk-Vertrag oder einer Prepaid-SIM-Karte und eine Internetverbindung.

Besonders hilfreich ist nora für Menschen, die nicht oder nicht gut telefonieren können, weil sie zum Beispiel eine Sprach- oder Hörbehinderung haben oder, weil sie Deutsch nicht so sicher sprechen, dass sie sich am Telefon gut verständigen können. nora ist so aufgebaut, dass man auch mit geringen Sprachkenntnissen und ganz ohne zu sprechen einen Notruf mit den wichtigsten Informationen absetzen kann. Dabei helfen Symbole, klare Texte und eine intuitive Nutzerführung.

Die App nutzt die Standort-Funktion Ihres Mobil-Geräts, um den Notfall-Ort zu ermitteln, und sendet ihn automatisch an die zuständige Einsatzleitstelle. Sie können den Notfall-Ort manuell ändern, falls er nicht richtig ermittelt wurde oder falls der Notfall an einem anderen Ort passiert ist. Neben den Angaben aus der Registrierung (Name, Vorname und Mobil-Nummer) können Sie weitere persönliche Angaben in der App hinterlegen.

nora ist das offizielle Notruf-App-System der 16 Bundesländer und damit neben den Notrufnummern 110 und 112 eine sichere sowie zuverlässige Möglichkeit, die örtlich zuständigen Einsatzleitstellen von Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienst schnell und direkt zu erreichen. Stellvertretend für alle Bundesländer organisiert die Geschäfts- und Koordinierungsstelle Notruf-App-System, angesiedelt im Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen, alle Belange rund um den App-Notruf.

Weitere Informationen rund um nora finden Sie hier: www.nora-notruf.de.

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Hätten Sie es gewusst?

Darf ein Einwilligungsvorbehalt gegen den Willen des Betreuten angeordnet werden?

Nein, das hat zuletzt der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung vom 24.2.2021 (Az. XII ZB 503/20) klargestellt.

Ein Einwilligungsvorbehalt kann nur dann angeordnet werden, wenn konkrete Anhaltspunkte für eine Vermögensgefährdung erheblicher Art vorliegen. Der Einwilligungsvorbehalt kann je nach den Umständen auf einen einzelnen Vermögensgegenstand oder eine bestimmte Art von Geschäften beschränkt werden. Dabei muss das Gericht, das den Einwilligungsvorbehalt anordnet, bei seinen Ermittlungen dem Umstand Rechnung tragen, dass es sich bei dem Einwilligungsvorbehalt um einen gravierenden Eingriff in die Grundrechte des Betroffenen handelt, der sich ohne konkrete Feststellungen nicht rechtfertigen lässt. Das bedeutet vor allem, dass der Betroffene zwingend angehört werden muss.

Zwar enthält § 1903 BGB, der die Anordnung des Einwilligungsvorbehalts regelt, keinen Verweis auf einen freien Willen, dennoch ist die Auffassung der Rechtsprechung eindeutig.

Es ist deshalb nur folgerichtig, dass mit der Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts ein neuer § 1835 Abs. 1 BGB-neu eingefügt wird, in dem diese Rechtsprechung nun auch gesetzlich festgehalten wird. Gegen den freien Willen des volljährigen Betreuten darf dann kein Einwilligungsvorbehalt mehr angeordnet werden. Die Betreuungsrechtsreform tritt am 1.1.2023 in Kraft.

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Über Lob freuen wir uns, Kritik nehmen wir ernst!

AWO-Betreuungsverein für den Kreis Birkenfeld e.V.

Hauptstraße 531–533

55743 Idar-Oberstein
betreuungsverein@awo-birkenfeld.de